Diesen Urlaub verbringe ich das erste Mal ohne mein Tagebuch. Das ist Platzgründen geschuldet. Mit dem Zug in den Urlaub zu fahren, nötigt einem einen gewissen Minimalismus ab, möchte man sich nicht kaputt schleppen. Um mit Kind (11 Jahre) und Hund (3 Monate) gut durch Umsteige- und Platzsuch-Wahnsinn zu navigieren, habe ich meinen Wanderrucksack, der seit 29 Jahren unbenutzt im Wandschrank schlummert, reaktiviert. Zuerst war das Tagebuch mit dabei. Beim Probetragen erwuchs dann jedoch die Erkenntnis, dass der Rucksack fundamental entschlacken muss. Also mussten alle Bücher zuhause bleiben. Auch das Tagebuch, das mich nun schon seit Jahren täglich begleitet. Man muss Prioritäten setzen und mit 50 geht Rückengesundheit eindeutig vor.
Als Ersatz habe ich mir im Urlaub ein Mini-Büchlein gekauft. Die ersten fünf Tage habe ich es mit Verachtung gestraft. Nein – ich wollte mein echtes Tagebuch. Meine großen Gedanken brauchen mehr Raum, als in dieses kleine Büchlein passt.
Gemessen an dem Maßstab dessen, was mir sonst an Schreibfläche zur Verfügung steht, kann dieses kleine Heftchen einfach nicht mithalten. Und so fragte ich mich, warum ich es überhaupt gekauft habe. Nach fünf Tagen Tagebuchentzug habe ich es dann doch hervorgeholt und ein paar Zeilen geschrieben. Und siehe da: Gemessen an der Alternative gar kein Tagebuch zu schreiben, ist das kleine Büchlein doch gar nicht so schlecht und stellt eindeutig eine ziemliche Verbesserung dar.
Wie das Beispiel zeigt, neigen wir dazu, unsere aktuellen Möglichkeiten immer am Optimum zu bewerten, ungeachtet dessen, ob uns dieses Optimum überhaupt zur Verfügung steht bzw. realistisch erreichbar ist. Mein Tagebuch ist nur ein kleines Beispiel dafür, wie wir uns so das Leben unnötig schwer machen.
Die Art, wie wir unsere Referenzpunkte setzen, entscheidet über den Grad an Zufriedenheit und Dankbarkeit, die wir empfinden. Dazu ein anderes Beispiel – das in seiner Konsequenz überhaupt erst dazu beitrug, dass ich mein Tagebuch nicht in den Urlaub mitnehmen konnte.
Letzten Winter war ich mit dem Auto unterwegs auf dem Rückweg vom Safari-Park – meine Tochter und deren Freundin im Schlepptau. Wir hatten bereits eine längere Fahrt auf der Autobahn hinter uns und waren gerade zurück in Hamburg, als nach der Anfahrt an einer Ampel unser Vorderrad abbrach. Da wir gerade erst angefahren waren, passierte nicht sehr viel, außer dass wir mit einem kleinen Rumms stehen blieben. Nun gibt es zwei Referenzpunkte, die man setzen kann:
- Warum musste dieser blöde Reifen abbrechen? Noch 10 Minuten, dann wären wir zuhause gewesen. Warum braucht der Abschleppdienst 2 Stunden und warum muss das ausgerechnet mir passieren?
Oder aber:
- Gott sei Dank ist der Reifen nicht bei voller Fahrt auf der Autobahn abgebrochen. Das hätte ganz anders ausgehen können. Zum Glück waren wir so langsam, dass nichts weiter passiert ist.
Ich kann nur sagen, dass mich der zweite Referenzpunkt mit großer Dankbarkeit erfüllt, auch wenn der abgebrochene Reifen allgemein ein blödes Ärgernis ist, auf das ich gerne verzichtet hätte. Denn dann hätten wir jetzt vielleicht noch ein Auto und hätten statt mit dem Zug damit in Urlaub fahren können und ich hätte mein Tagebuch doch dabei … aber „wenn…dann“-Gedankenspiele sind in etwa so hilfreich, wie falsch gesetzte Referenzpunkte. :-)